Bundesverdienstkreuz für Professor Roland Ostertag

Für seine herausragende Verdienste im Bereich der Architektur und für das Allgemeinwohl hat Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid im Namen des Bundespräsidenten Joachim Gauck am Dienstag, 15. September 2015 Professor Roland Ostertag aus Stuttgart den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland – 1. Klasse verliehen:

Fotos: Heiner Wittmann > Das komplette Fotoalbum.

Die Rede von Prof. Ostertag anlässlich dieser Ordensverleihung:

DIE STADT, DIE STADT STUTTGART

Die Stadt, der Stadtraum ist die höchste und anspruchsvollste Form eines Gesamtkunstwerks. Eine hochkomplex vernetzte Struktur als Ergebnis und Abbild von Geschichte, wirtschaftlichem Tätigsein, menschlichem Leben und Leiden, auch des Zerstörens. Ergebnis der Dialektik zwischen Elementen des Naturraumes und anthropogenen Ursprungs, des räumlichen Zusammenspiel der natürlichen geographischen Gestalten und der historischen Überprägung durch die Kulturarbeit von Generationen/Neef. Stuttgart ist eine von Natur und Topographie geprägte, Kulturerlebnisse bietende, Stadt mit einer Zivilgesellschaft liberaler Tradition, ob herzlicher wurde noch nicht wie in München auf die Probe gestellt. Wir schätzen sie, sie wurde für Menschen aller Welt zum Lebensort. Alle Kulturen verwirklichen ihre Welterfahrungen in ihren Städten. Stadtarchitektur ist für unsere Weltvergewisserung zentral. Stadtwanderungen sind Weltwanderungen durch die menschliche Existenz.Stadtarchitektur ist Spiegel der Welt, weil sie Spiegel der Erinnerung ist.Städte sind Lesebücher

Zustand der Stadt. Stuttgart ist eine reiche Stadt, doch ohne Vision, Identität, die alte Identität mit vielen Kulturdenkmäler haben geschichtslose Menschen zerstört. Dem Stadtwanderer bietet sich die Stadt mit einer einmaligen Topographie jedoch ohne Klang. Wo Welt sein sollte, meist nur leere, stumme Straßen, die Bauten versagen einem die Gewissheit in einem spezifischen Ort zu sein. Vor lauter Internationalität nimmt der Ortsbezug der Straßen, Gebäude ab. Eine in Solitäre aufgelöste, unwirtliche, kalte Stadt. Ergebnis blinder Planung. Die Stadt spricht nicht mehr. Hat ihre Seele verkauft.

GROSSPROJEKTE prägen die Stadt. Stuttgart 21, A1 Volumen ohne Raum > Ortsbesichtigung: S-21 – Bauabschnitt A 1, der beabsichtigte Irrsinn im Oberen Schlossgarten, Rosensteintunnel, die sinnlosen Einkaufstempel, beschädigen die Räume, die Kultur der Stadt Alpträume, die Kilometer raumzerstörender blauer Röhren, eher Hydrierwerk als Stadt

und die verheerenden Kollateralschäden von S21 signalisieren das Ende, was die Geschichte als Stadt kennt. Irrtümer? Allerdings kann der Geist nicht irren, da wo keiner vorhanden. Kleist. Städte halten viel aus, sie können auch umkippen. Städte,Stuttgart haben ein Grundgesetz,in dem die charakteristischen die unverzichtbaren Werte, Fundamentalien, festgeschrieben sind, die nicht verletzt werden dürfen, gepflegt werden müssen, was Stuttgart nicht kennt. Operative Eingriffe in ihre Struktur sind wie Gen-Manipulationen und zerstöre den Stadtorganismus.

Alles, Menschen, Stadträume, Sozialverhältnisse, werden zum Abfall unserer verrückt gewordenen Waren- und Kapitalordnung. Wo Menschen im Weg sind, werden sie wie Ratten in Unterführungen geschickt. Wo sie ihr Leben mit Amazon einrichten, in Bluejeans ins Theater gehen, Modeschau „weiblicher Unterwäsche“ im Haus der Geschichte, braucht man sich über zerstörte Stadtlandschaften nicht wundern. Räume sind Ausdruck des Denkens der Stadt. Sind die wahren Spiegelbilder der Gesellschaft. Ergebnis der unwiederbringliche Verlust des individuellen/kollektiven Gedächtnis, des Charakters,des eigenen Sinns der Stadt. Anstelle Erzählfähigkeit vergegenständlichter Geschichte, eine ortlose entzauberte Welt Nicht Ergebnis von Denken, Anlass zum Denken.

Verantwortung Wer ist dafür verantwortlich? Wer sind die Vollzugsbeamten der Epochenstimmung? Die von uns gewählten Verantwortlichen? Die Politiker, Stadtplaner, Städtebauer?Jede Stadt verdient die Politiker, die Stadtplaner, die Architekten, die ihrem gesellschaftlichen Zustand, ihrer Lebensweise entsprechen. Die Defizite der Stadt sind immer die Defizite der städtischen Gesellschaft. Wir sind nicht nur die Opfer von Städtebau/-planung, sind auch die Täter. Wir können mit unserer Geschichte, unvergleichlichen Lage nichts anfangen. Das zeigt sich in der selbstzufriedenen Oberflächlichkeit, im Umgang mit der Stadtgeschichte, unseren Profilneurosen Die Politik, die Stadtplanung, die Hochschulen, viele Architekten haben abgedankt. Die Stuttgarter wehren sich nicht gegen diese Entwicklung, die Stadtplanung der Investoren, Bauträger die den Bauherrn abgelöst haben, die Bahn.Sie lassen sie wüten, schalten, walten ohne Rücksicht auf die Stadt. Sie verwandeln sie in ein Schlachtfeld, eine Wüste, eine Zumutung. Bei mir, 1945 14 Jahre jung, tauchen ähnliche Bilder der zerstörten Stadt nach dem Krieg auf. Schon seit Jahren frage ich: Wem gehört denn die Stadt?

Perspektive: Können wir, nachdem die Welt der modernen Städte immer unwirtlicher wird, wieder eine menschliche, sprechende Welt, Stadt schaffen? Ich bin der Meinung, wir können den unendlichen Fortschritt in den Verlust, der Humanität, die zivilisatorische Katastrophe, beenden. Denn wir erinnern uns an die Stadt als Spiegel der Erinnerung. Unsere Zukunft wächst aus der Zivilisation des Erinnerns. Während meiner 60-jährigen Tätigkeit stellte ich Fragen
H.ARENDT: Was für unsere Welt noch zu hoffen bleibe, wenn, die Stadt untergegangen sei. Antwort. Die Menschen sollten in Gedanken, Träumen, in den Gassen ihrer versunkenen Stadt sich bewegen, wie das Sonntagskind des Märchens. Um sie mit positiven Gedanken, an die Oberwelt zurückzubringen. Die Gefährdungen seien Chancen. Aus der Hoffnung, dem Verlangen, der Imagination, aus unserem Lebensgefühl könnten neue städtische Räume entstehe.

W. HILDESHEIMER: den melancholischen Dichter der Hoffnung, der in den 80er Jahren Mozarts Requiem begleitete. Angesichts der Zerstörung der Städte, erhob er Anklage gegen die Schreibtischtäter Planer, Politiker „Lass kein Requiem für sie, Herr gib ihnen die ewige Ruhe nicht, denn sie haben diese Gnade nicht
verdient, systematisch ruinieren sie deine Schöpfung“ Am Ende seiner Auseinandersetzung mit Mozarts Requiem fragt er „Vielleicht hofft es in uns? und antwortet:Solange ich bin, hoffe ich.

PAPST FRANZISCUS: fordert in seiner Umwelt-Enzyklika angesichts der Zerstörung der Städte, der Erde, Schöpfung der Schöpfung, nicht zu resignieren sind kein Labor der Technik, sind nicht Eigentümer der Erde, sind Treuhänder, Hüter. Alle Projekte Umwelt Ethik Politik Religion Soziales sind zusammen zu denken. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung und Verantwortung.

DER KÜRZLICHE KIRCHENTAG Botschaft „Damit wir klug werden“ fragt Was muss geschehen damit wir klug werden? Nicht das Ich, nur das gemeinsame Wir zählt. Angesichts skandalöser Armut und Selbstzerstörung der Erde kann nur protestantische Selbstkritik zur Klugheit führen, die Schöpfung bewahren.

Dies uns, den Regierenden, Parteien ins Stammbuch, sie weisen auf unsere deren Verantwortung hin, eröffnen Perspektiven. Wir dürfen die Hoffnung nicht auf geben wie einen Brief ohne Adresse. Städte, Bordeaux,Bologna, Oslo sind seit Jahren dabei ihren Zerfall durch kluge Stadtpolitik aufzuhalten, aus der Weltlosigkeit der Moderne zur lebendigen Stadt der Zukunft zu gelangen, der Stadtwanderer seine Stadt neu erlebe, als Spiegel der Welt. Stuttgart muss daran mit Geist, mit einer Vision teilnehmen, sich seines Bezugs zur Welt, seiner Natur, Topographie, seiner Geschichte erinnern, die in keiner anderen Stadt so mit einander verwachsen sind. Sie begründen die Persönlichkeit der Stadt und liegen in ihrem Grundriss verwahrt, sie müssen zum Gesetz des Denkens, Handelns bei der Suche nach der Lebensform, Identität der Stadt werden. Die Zukunft der Stadt liegt noch vor uns. Das Potential der Stadt wird ja nicht genutzt. An dieser Sicht, an einem überzeugenden Plan fehlt es. Höchste Zeit für eine Idee von Stadt, das isolierte und isolierende Denken, Planen durch ein Gesamtkonzept zu ersetzen, daraus Vorgaben für Politik, Planer, Architekten abzuleiten. Die Stadt der Zukunft kann nur entstehen wie die Stadt der Vergangenheit. Durch Übernahme des Bewährten und behutsame, überlegte Übernahme und Verbesserung des Neuen. In der Standortkonkurrenz der Städte spielt die Passantenfrequenz in der Königstraße, das schnelle Durcheilen/Verlassen-Können der Stadt, keine, die Atmosphäre, Milieuqualität, das räumliche Angebot, die Emotionalität der Stadt die entscheidende Rolle. Langfristige Probleme brauchen zur Lösung langfristiges Engagement. Ich weiß nicht nur lusterfüllt, sondern mühsam, bedarf täglichen Niederlagen-Training. Meine verbleibenden Tage reichen nicht. Jüngere sind dran. Ich werde weiterhin dabei sein. Nicht nur aus Sorge, sondern weil die Stuttgarter das Recht auf eine schöne, eine menschenwürdige, lebenswerte Stadt haben Dies eine Liebeserklärung eines Stuttgarters an Stuttgart.

Dank fürs Zuhören


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: